Liebe Leserinnen und Leser, ich hoffe Sie sind gut ins neue Jahr gestartet. Für 2022 wünsche ich Ihnen Gesundheit, Zufriedenheit und Erfolg. Auch wenn in unserem Land einiges im Argen ist und noch mehr in eine falsche Richtung läuft, so soll uns das nicht daran hindern, das Beste aus unserem eigenen Leben zu machen und für unsere Familie, Freunde und unsere Liebsten da zu sein. Auch unter schwierigen Umständen, und dies muss in der aktuellen Zeit besonders betont werden, tragen wir selber die Verantwortung für unsere Gesundheit, unsere Zufriedenheit und unseren Erfolg im Leben. Diese Verantwortung können mündige Bürgerinnen und Bürger nicht abgeben, schon gar nicht an die Politik. Aber halt, klingt das nicht etwas zu sehr nach «jeder schaut für sich», nach Egoismus pur? Was ist mit Solidarität?
Das ist ein verbreitetes Missverständnis, denn Eigenverantwortung hat nichts damit zu tun, nur für mich selbst zu schauen. Im Gegenteil, Eigenverantwortung heisst oft, auch eine Bürde auf sich zu nehmen, Unangenehmes zu tun, sich in den Dienst einer Sache zu stellen, weil es richtig ist. Eigenverantwortung ist Grundvoraussetzung für Solidarität, denn nur wer in erster Linie die Verantwortung für sich selbst übernimmt, kann auch Verantwortung in der Gesellschaft tragen.
In Artikel 6 der Schweizerischen Bundesverfassung heisst es: «Jede Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei.»
Damit wäre eigentlich alles gesagt. Doch landauf landab ist aktuell zu lesen, dass die Solidarität in der Schweiz einen Tiefpunkt erreicht habe (Gründe dafür gäbe es jedenfalls viele). Das Staatsfernsehen SRF widmete dem Thema eine Club-Sendung mit dem Titel: «Corona – Die Grenzen der Solidarität.» Besonders bemerkenswert waren die Aussagen von Markus Müller, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht. Seiner Ansicht nach habe die mangelnde Solidarität auch mit dem Schweizer Verfassungssystem zu tun. «Wenn man in unsere Verfassung schaut, dann sieht man dort drin vor allem Rechte. Die Bürger dürfen gegenüber dem Staat Ansprüche stellen. Sie müssen zwar ins Militär und Steuern zahlen, aber sonst müssen sie eigentlich nichts.»
Ihm reicht das nicht und er fordert: Die Schweizer Verfassung müsse nach den jetzigen Erkenntnissen mit Corona umgeschrieben oder ergänzt werden. Falls Ihnen jetzt schon mulmig zumute ist, keine Angst, es wird noch schlimmer und Professor Müller steht hier nur als Beispiel für unzählige absurde und gefährliche Forderungen. Solidarität ist einer der am häufigsten missbrauchten und falsch verstandenen Begriffe. Die Definition sagt: Solidarität ist ein «unbedingtes Zusammenhalten mit jemandem aufgrund gleicher Anschauungen und Ziele» oder noch schöner: «eine auf das Zusammengehörigkeitsgefühl und das Eintreten füreinander sich gründende Unterstützung». Solidarität und Zwang sind also per se ein Widerspruch, Solidarität ist immer eigenverantwortlich und kann nicht vorgeschrieben oder erpresst werden.
Nach Ansicht des Professors ist der Mensch aber nicht einfach von sich aus solidarisch, sondern man müsse ihn zur Solidarität erziehen. «Und erziehen kann man unter anderem über die Verfassung.» Darum müsse die Verfassung aus seiner Sicht so angepasst werden, «dass sie alle Bürgerinnen und Bürger nicht nur darum bitte, sondern sie darauf verpflichte, anzupacken und zum Gemeinwohl beizutragen».
Diese Aussage ist auf so vielen Ebenen falsch, dass ich kaum weiss, womit man beginnen soll. Die Verfassung ist unsere oberste Rechtsquelle, sie ist die Konstitution des Staates, man spricht auch vom sogenannten Gesellschaftsvertrag, quasi der kleinste gemeinsame Nenner, auf den wir uns einigen können. Was die Verfassung eines demokratischen, freiheitlichen Rechtsstaates nicht ist und keinesfalls sein darf – ein Erziehungsinstrument. Man kennt das aus skrupellosen Diktaturen, wo die Verfassung zur Kontrolle, Manipulation und eben Umerziehung missbraucht wird.
Natürlich drückt es der Herr Professor sehr viel sympathischer aus: «Der Mensch braucht Hilfe, um solidarisch zu handeln. Und das nicht vom Pfarrer am Sonntag, sondern unter anderem auch von der Rechtsordnung und der Politik.»
Er ignoriert dabei, dass auch Politiker, Juristen und Beamte, die den geforderten Erziehungsauftrag also «Hilfe zur Solidarität» wahrnehmen müssten, auch nur Menschen sind, also «nicht von sich aus solidarische Wesen», wie er selber sagt. Es ist erschreckend, mit welcher Selbstverständlichkeit heute derartige Ideologie verbreitet werden kann, ohne dass die Radikalität und Widersprüchlichkeit solcher Aussagen überhaupt wahrgenommen wird. Zweck unserer Verfassung sind Freiheit und Sicherheit, damit sind die Rahmenbedingungen gegeben, dass Menschen eigenverantwortlich handeln und damit auch solidarisch sein können. Auf sozialistische Phantasien wie die des Professors Müller und auf Erziehung durch die Politik können wir auch in diesem Jahr getrost verzichten.
Für eine sichere Zukunft in Freiheit!