In seiner Antwort auf die Ip. Aeschi 22.3203 legt der Bundesrat dar, dass von 79 von Bund oder Kantonen allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsverträge (AVE GAV) auf Bundes- und kantonaler Ebene bei 51 die Ausnahme vom Arbeitnehmerquorum bei der Erteilung der Allgemeinverbindlicherklärung gewährt wurde (Stand 1.4.2022). Das entspricht 64,5 Prozent – die Ausnahmen sind zur Regel geworden.
Das Durchwinken von AVE GAV schränkt die in der Verfassung festgeschriebene Wirtschaftsfreiheit widerrechtlich ein und hat für die betroffenen Unternehmen weitreichende negative Folgen rechtlicher und finanzieller Art – sogar, wenn sie selbst einem nicht allgemeinverbindlich erklärten GAV in ihrer Branche angeschlossen sind. In vielen Fällen versuchen die in einem AVE GAV zusammengeschlossenen Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter, sie zu einer Unterstellung zu zwingen.
Der Bundesrat wird gebeten, folgende Fragen zu beantworten:
- Wo findet man eine aktuelle Liste der AVE GAV des Bundes und der Kantone inkl. der verschiedenen Quoren und Begründungen der Ausnahmeregelung?
- Wie werden die Angaben der Paritätischen Kommissionen und der vertragsschliessenden Verbände eines AVE GAV zu den Quoren überprüft?
- Muss bei einem Antrag auf AVE, welcher sich auf die Ausnahmeregelung nach Art. 2 Ziff. 3 AVEG stützt, begründet werden, warum in diesem Fall die Ausnahmeregelung zum Tragen kommen soll? Wenn Nein, weshalb? Wenn ja, welche Kriterien müssen die Gesuchsteller erfüllen und wie werden diese vom Seco überprüft?
- Erfolgt eine regelmässige (z.B. jährliche) Überprüfung der Erfüllung der Quoren, wie dies gemäss Art. 18 Abs. 2 AVEG vorgesehen ist, und falls ja, wie?
- Gibt es Gesuche zur AVE eines GAV, welche abgelehnt wurden? Wenn ja, welche Gesuche wurden abgelehnt und aus welchen Gründen? Gibt es Gesuche, welche sich auf die Ausnahmeregelung im Sinne von Art. 2 Ziff. 3 AVEG stützen, die abgelehnt wurden?
- Kann der Bundesrat die Rechtsmittel gegen eine AVE abschliessend darlegen und inwiefern erachtet er die verfassungsrechtlichen Verfahrensrechte der zwangsunterstellten Arbeitgeber und Arbeitnehmenden dabei als erfüllt?
- Kann der Bundesrat die Rechtsmittel gegen einen Unterstellungsantrag / -beschluss einer paritätischen Kommission abschliessend darlegen und erachtet er damit die verfassungsrechtlichen Verfahrensrechte einer betroffenen Firma und ihrer Mitarbeitenden als erfüllt?
Antwort des Bundesrates:
Frage 1
Jede Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) auf nationaler oder kantonaler Ebene wird gemäss Art. 14 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen (SR 221.215.311) im Bundesblatt bzw. im kantonalen Amtsblatt veröffentlicht und ist zusätzlich auf der Internetseite des SECO (www.seco.admin.ch > Arbeit > Gesamtarbeitsverträge ) abrufbar. Es erfolgt keine Publikation der Verfahrensunterlagen, welche namentlich die Quorenangaben enthalten. Hingegen wird der Entscheid über die AVE gemäss Gesetz den Vertragsparteien und allfälligen Einsprechern schriftlich und begründet eröffnet, inklusive Quorenangaben.
Fragen 2 und 3
Bezüglich der Prüfung der Quoren wird auf die Antworten des Bundesrates vom 18. Mai 2022 zu Fragen 1 und 2 der Interpellation Aeschi 22.3203 verwiesen.
Frage 4
Die Voraussetzungen für die AVE müssen während der gesamten Gültigkeitsdauer der AVE erfüllt sein. Die Quoren werden in jedem AVE-Verfahren (z.B. Änderung) geprüft. Im Rahmen von Lohnanpassungen stellen viele Branchen beinahe jährlich ein Gesuch auf Änderung der AVE. Weiter ist die Geltungsdauer jeder AVE befristet, was ebenfalls zu einer regelmässigen Prüfung der Quoren führt.
Frage 5
Die AVE-Gesuche müssen von den vertragsschliessenden Sozialpartnern (d.h. Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite) zwingend gemeinsam eingereicht werden. In der Praxis erfolgt eine Einreichung erst dann, wenn die Sozialpartner davon ausgehen, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für eine AVE grundsätzlich erfüllt sind.
Es gab Fälle, in denen Gesuche von den Sozialpartnern nach Vorabklärungen durch das SECO zurückgezogen oder (vorläufig) nicht eingereicht wurden.
Frage 6
Einleitend wird darauf hingewiesen, dass die AVE ihre verfassungsrechtliche Grundlage in Art. 110 der Bundesverfassung (BV, SR 101) hat. Wer – wie beispielsweise von einer AVE allfällig betroffene Unternehmen oder Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – ein Interesse glaubhaft macht, hat in jedem AVE-Verfahren die Möglichkeit Einsprache zu erheben und den eigenen Standpunkt darzulegen. Diese Einsprachemöglichkeit ist der Vernehmlassung im Gesetzgebungsverfahren ähnlich. Das Verfahren um AVE eines Gesamtarbeitsvertrags (GAV) selbst ist eine besondere Art des Rechtsetzungsverfahrens (vom Bundesgericht bestätigt in BGE 98 II 205 E. 1 S. 208 f.), auf welches das Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVG, SR 172.021) und auch der verfassungsrechtliche Anspruch auf rechtliches Gehör nicht anwendbar sind. Den Einsprechern kommen demnach keine Parteistellung und auch keine weitergehenden Verfahrensrechte zu.
Frage 7
Bei der Frage der Unterstellung handelt es sich um eine Vollzugsfrage des allgemeinverbindlich erklärten GAV, für welche die GAV-Parteien bzw. die von ihnen eingesetzten paritätischen Berufskommissionen zuständig sind. Die Rechtsnatur des GAV ändert sich mit der AVE nicht. Beim Vollzug eines allgemeinverbindlich erklärten GAV sowie bei Fragen der Unterstellung handelt es sich somit um Anwendung von Zivilrecht (mehrfach bestätigt durch das Bundesgericht in BGE 98 II 205 E. 1 S. 208 f.; 118 II 528 E. 2a S. 531; 137 III 556 E. 3 S. 558; 143 I 403 E. 7.3.2 S. 521). Im Streitfall, z.B. bei einer Unterstellungsfrage, sind deshalb die Zivilgerichte zuständig. Dieser Rechtsweg wird auch genützt. Der Prozessweg und die Rechtsmittel richten sich nach der Schweizerischen Zivilprozessordnung (ZPO, SR 272), womit die verfassungsrechtlichen Verfahrensrechte gewährleistet sind.
Chronologie:
Diskussion verschoben
27.09.2024
Nationalrat