Seit seiner Einführung im Jahr 1996 hat der Zivildienst eine regelrechte Explosion der Anzahl der Zivildienstleistenden erlebt. Diese Zunahme geht auf die Abschaffung der Gewissensprüfung zurück. Während es 2008 noch 1632 Zulassungen gab, stieg diese Zahl 2009 auf 6720. Seither ist sie mit Ausnahme von 2011 nie mehr unter 5000 gesunken. 2020 wurden allein 5254 Personen zum Zivildienst zugelassen. Davon reichten 30,4 Prozent ihr Gesuch nach der Rekrutenschule und 13,9 Prozent nachdem sie die Rekrutenschule begonnen haben.Ebenso erschreckend ist, dass die Zahl der Zivildienstpflichtigen Rekordhöhe erreicht hat: Sie stieg von etwas mehr als 17 000 im Jahr 2011 auf mehr als 50 000 im Jahr 2021, was der Hälfte des Sollbestands der Armee entspricht. Diese Zahl ist unverhältnismässig hoch, wenn man bedenkt, dass es formal keine freie Wahl zwischen dem Militärdienst und dem Zivildienst gibt. Denn diese Möglichkeit eines Wechsels wurde mit der Absicht geschaffen, dass Militärdienstpflichtige diesen Dienst nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren können.Folgende Fragen sind dabei zu klären:1. Ist der Bundesrat der Ansicht, dass die nach der Rekrutenschule erfolgten Abgänge in den Zivildienst den Armeebestand belasten?2. Welche Auswirkungen könnte eine Wiedereinführung der Gewissensprüfung nach absolvierter RS auf den Personalbestand der Armee haben?3. Ist der Bundesrat der Ansicht, dass die Wiedereinführung der Gewissensprüfung rechtskonform wäre?4. Welche finanziellen Auswirkungen haben die Abgänge von Armeeangehörigen in den Zivildienst nach der Rekrutenschule, insbesondere unter Berücksichtigung der Investitionen in ihre Ausbildung?
Antwort des Bundesrates:
1. Dass und wie die Abgänge zum Zivildienst von Armeeangehörigen nach bestandener RS den Armeebestand belasten, hat der Bundesrat in seiner Botschaft vom 20.02.2019 zur Änderung des Zivildienstgesetzes (BBl 2019 2459) ausgeführt. Diese Änderung wurde vom Nationalrat am 19.06.2020 abgelehnt. Seither hat der Bundesrat im zweiteiligen Bericht zur Alimentierung von Armee und Zivilschutz vom 30.06.2021 und 04.03.2022 dargelegt, dass der Effektivbestand der Armee gegen Ende des Jahrzehnts nicht mehr erreicht werden kann, wenn die vorzeitigen Abgänge (v.a. wegen Übertritten in den Zivildienst und aus medizinischen Gründen) nicht reduziert werden können. Der Bundesrat hält im Bericht fest, dass aus heutiger Sicht ungewiss ist, ob die Bestände von Armee und Zivilschutz mit den zurzeit vorgesehenen kurz- und mittelfristigen Massnahmen auf Dauer gesichert werden können.2. Der Bundesrat erachtet die Wirkung der Wiedereinführung der „Gewissensprüfung“ auf den Armeebestand als fraglich und die politische Akzeptanz einer solchen Massnahme als nicht gegeben. Deshalb hat er diesen Ansatz im zweiten Teil des Alimentierungsberichts vom 04.03.2022 verworfen. 3. In der Botschaft zur damaligen Zivildienstgesetzrevision wurde mit Verweis auf ein Gutachten von Prof. Pierre Tschannen (VPB 2007.4) ausgeführt, dass aus verfassungsmässiger Sicht als Zulassungsverfahren die Prüfung der Gewissensgründe oder der Tatbeweis oder eine Kombination aus beiden zulässig seien. Alle drei denkbaren Modelle seien geeignet, den Gewissenskonflikt darzulegen, und keines der drei sei vor Missbräuchen gefeit (BBl 2008 2707 S. 2756). Bei der Ausgestaltung einer erneuten „Gewissensprüfung“ wäre zu beachten, dass Einschränkungen von Grundrechten einer genügenden rechtlichen Grundlage bedürfen, durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt und verhältnismässig sein müssen, wobei der Kerngehalt der Grundrechte unantastbar ist (Art. 36 BV). Die abschliessende Beurteilung der Rechtskonformität einer „Gewissensprüfung“ kann erst aufgrund eines konkreten Modells geprüft und beurteilt werden.4. Die Jahre 2020/2021 sind infolge der Covid-19-Pandemie und dem damit einhergehenden Aussetzen von Wiederholungskursen in 2020 nur beschränkt aussagekräftig. Im Jahr 2021 waren es gemäss Zählungen der Armee 1’978 Angehörige der Armee (AdA), die nach der Rekrutenschule in den Zivildienst gewechselt sind. Da pro AdA Kosten zwischen 30’424 Franken (Soldaten), 57’172 Franken (Unteroffiziere), 81’380 Franken (Höhere Unteroffiziere) und 83’750 Franken (Offiziere) aufgewendet wurden, sind der Armee Kosten von geschätzten 69 Millionen Franken entstanden. Antwort des Bundesrates.